
Links: In Taiwan ist kürzlich die erste direkte Übersetzung von Rilkes Roman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ erschienen. © ECUS Publishing.
Rechts: Die chinesische Übersetzung von Rilkes Gedicht „Herbsttag“ (1902) wurde 2012 in der Ausstellungsausgabe des FULLMOON Poetry-Sound Magazins in Taiwan veröffentlicht – mit einer Vertonung im selben Jahr. © Tong Yali
Ich lieb ein pulsierendes Leben,
das prickelt und schwellet und quillt,
ein ewiges Senken und Heben,
ein Sehnen, das niemals sich stillt.
-Rainer Maria Rilke. Leben und Lieder (1894) [1]
Anlässlich des Doppeljubiläums von Rainer Maria Rilke (1875–1926) wird in Taiwan mit der Veröffentlichung seines Prosawerks Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge gefeiert[2] – wie inzwischen viele andere Werke aus der deutschsprachigen Literatur wurde der Roman direkt aus dem Deutschen ins traditionelle Chinesische übersetzt. Die Erstübersetzung dieses Romans, die auf einer japanischen Ausgabe basiert, erschien im Jahr 1972 – mitten in der Zeit des Kriegsrechts (1949–1987), das die Regierung der Republik China nach dem militärischen Rückzug auf die Insel Taiwan verhängt hatte. Das Kriegsrecht, das 38 Jahre lang dauerte, bedeutete für Taiwaner jahrzehntelange Einschränkung von Grundrechten, politische Verfolgung und autoritäre Kontrolle. Das bedeutet unter anderem: Es gab weder Reisefreiheit noch Presse- oder Meinungsfreiheit. Doch im Kino konnte man nach dem gemeinsamen Singen der Nationalhymne US-amerikanische Unterhaltungsfilme anschauen – aber bloß nicht über die Politik reden. Die Erstübersetzungen von Texten Rilkes, Kafkas und Nietzsches in Taiwan, die sich mit den existenziellen Bedingungen des Menschseins befassen, hatten für die damalige Gesellschaft eine besondere Bedeutung. Wenn wir noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen, zeigt sich die deutsche Literaturlandschaft in Taiwan wie folgt: Durch vereinzelte Übersetzungen während der japanischen Kolonialherrschaft (1895–1945) wurden deutschsprachige Literatur und Philosophie vermittelt – etwa durch Mori Ōgais (1862–1922) Übersetzung von Goethe, die möglicherweise auch in intellektuellen Kreisen Taiwans bekannt war.[3]
Während dieser Zeit wurde Rilke erstmals in China vorgestellt. Der chinesische Germanist und Lyriker Feng Zhi (1905–1993), der 1935 in Heidelberg promoviert hatte, widmete sich nach seiner Rückkehr nach China intensiv der Übersetzung deutschsprachiger Literatur. Das Jahr 1938 markiert die erste Buchveröffentlichung einer Rilke-Übersetzung ins Chinesische: Das vom Insel Verlag nach Rilkes Tod herausgegebene Werk Briefe an einen jungen Dichter (1929) wurde von Feng Zhi ins Chinesische übertragen und in Shanghai publiziert.[4] Bereits 1936 hatte Feng einzelne Gedichte Rilkes, darunter Der Panther (1902/1907), in chinesischen Literaturzeitschriften veröffentlicht. Im Zuge der Vereinfachung der chinesischen Schriftzeichen im Jahr 1956 wurde die Übersetzung westlicher Literatur in der Volksrepublik China bewusst stark eingeschränkt, da sie als »Literatur mit bürgerlicher Ideologie« galt. Demgegenüber erschien in Taiwan, wo die traditionellen chinesischen Schriftzeichen und die klassische Literatur sorgfältig bewahrt wurden, bereits 1958 die erste Übersetzung eines Werkes von Rainer Maria Rilke: Das Stunden-Buch (1905) – allerdings nicht direkt aus dem Deutschen, sondern basierend auf einer englischen Zwischenübersetzung.[5] Zu Beginn der chinesischen Kulturrevolution (1966–1976), in der westliche Literatur in China kaum zugänglich war, wurde 1967 in Taiwan die erste direkte Übersetzung eines Rilke-Werks in Buchform veröffentlicht.[6] Der taiwanische Dichter Lee Kuei-Shien (1937–2025), ein leidenschaftlicher Bewunderer von Rilkes Dichtung, begann Anfang der 1960er-Jahre Deutsch zu lernen, um dessen Werke im Original zu erschließen und zu übertragen. Sein Engagement markiert den Auftakt einer intensiven Phase der Rilke-Übersetzungen in Taiwan während der 1960er- und 70er-Jahre.
Erst ab den 1960er-Jahren konnte man schließlich in Taiwan Germanistik studieren. Die ursprünglich 1925 vom Ordo Sancti Benedicti (OSB) gegründete Fu Jen Catholic University, die 1952 in Beijing zur Schließung gezwungen wurde, durfte in den 1960er-Jahren durch die Societas Verbi Divini (SVD, Gesellschaft des Göttlichen Wortes) in Taipei neu gegründet werden. Damit begann auch die Ausbildung der ersten Germanistik-Studierenden in Taiwan. Diese päpstliche Universität wurde im Jahr 2000 zu meiner Alma Mater. Als ich 1998 für ein Austauschjahr nach Marburg kam, wusste ich noch nicht, dass diese Stadt auch mit der Geschichte des geteilten Insel-Verlags verbunden war. Rilkes Verleger Anton Kippenberg (1874–1950) zog nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seiner Familie von Leipzig nach Marburg und wählte die Stadt als neue Heimat. Mein pulsierendes Leben begann mit dem Erwerb dieser Sprache. Je älter ich wurde, desto mehr erkannte ich, wie sehr sich die Taiwaner darum bemühten, in fremde Kulturen einzutauchen – um das Verlorene wiedergutzumachen und das existenzielle Ich sowie die eigene Identität neu zu entdecken.
Rilke ins Chinesische zu übersetzen ist nie eine leichte Aufgabe. Doch noch bevor die erste Generation junger Germanisten in Taiwan ausgebildet wurde, konnte die Literaturszene dort kaum erwarten, Rilkes Werke in chinesischer Sprache zu lesen. Lee Kuei-Shien, der das Vorwort zu meinem zweiten Gedichtband verfasst hat, widmete sein Leben der Übersetzung und Herausgabe von Rilkes Dichtung.[7] Ende 2011, als ich ihn aus Dankbarkeit in seinem Verlag besuchte, überreichte er mir persönlich mehrere von ihm herausgegebene Rilke-Bände – darunter die dritte Auflage der Duineser Elegien (1923) aus dem Jahr 1988, deren Erstausgabe bereits 1969 erschienen war.[8] Kurz vor der Aufhebung des Kriegsrechts hatte er seinen eigenen Verlag gegründet, und ein solches Geben war wie eine Verheißung – eine stille Erwartung, dass ich den Weg der Literaturübersetzung weitergehe.
Im vergangenen Jahrzehnt hat der chinesischsprachige Raum eine Blütezeit der Publikationen deutschsprachiger Literatur erlebt – Rilke in Taiwan eingeschlossen. Unter den Übersetzenden bildete sich ein Kreis von Dichterinnen und Dichtern, in dem eine subtile, unsichtbare Konkurrenz herrschte. Obwohl in Taiwan viele dieser Übersetzungen indirekt erfolgten, stellen sie dennoch aktive und kollektive Bemühungen innerhalb der Literaturszene dar. Die Übersetzenden bewegten sich zwischen Christoph Martin Wielands (1733–1813) Konzept der ›freien Übersetzung‹ und dem von Yan Fu (1854–1921) formulierten chinesischen Übersetzungsprinzip ›Texttreue, Lesbarkeit und stilistische Angemessenheit‹. [9] Dabei wagten sie eigene Interpretationen und kreative Zugänge zu Rilkes Werk. Ein stiller, aber zugleich unüberhörbarer Dialog zwischen den Ausgaben diesseits und jenseits der Taiwanstraße ist bis heute spürbar.
Auch für mich bleibt die Übersetzung Rilkes ins Chinesische eine anspruchsvolle Aufgabe. Deshalb habe ich vor der Veröffentlichung von Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge lediglich ein einziges Gedicht von ihm publiziert. Mit dem damaligen Literaturpreisgeld habe ich das VOLLMOND Poesie-Klang Magazin (2011/2012) herausgegeben, das jeweils am Tag des Vollmonds erscheint. Aus persönlicher Liebe zu Rilkes Werk habe ich darin sein Gedicht Herbsttag (1902) ins Chinesische übertragen. Die Vertonung übernahm der ebenfalls damals in Berlin lebende Musiker Hsieh Chieh-Ting, der zuvor das von Paul Celan (1920–1970) inspirierte Musik- und Tanzstück Schibboleth (2010) geschaffen hatte.[10] Ich glaube daran, dass wir im Laufe der Zeit zu jener älteren Generation herangewachsen sind, und dass auch die kommende Generation uns mit ähnlicher Hingabe folgen wird.
*Tong Yali, geboren 1978 in Taiwan, ist eine Lyrikerin und Übersetzerin deutschsprachiger Literatur. Sie lebt und arbeitet derzeit im Rheinland.
[1] Vgl. Rilke, René Maria (1894): „Ich lieb ein pulsierendes Leben“. Leben und Lieder: Bilder und Tagebuchblätter (1894). Strassburg, Leipzig: G. L. Kattentidt.
[2] Rilke, Rainer Maria. Übers. Tong Yali (2025): „Mǎ'ěr tài shǒujì“ 馬爾泰手記 (Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge). Taipei: Ecus Publishing (木馬文化[Mùmǎ wénhuà]).
[3] Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von. Übers. Mori Rintarō (森林太郎), auch bekannt als Mori Ōgai 森鷗外 (1909): „Fausuto“ ファウスト(Faust). Tokyo: Shunyōdō (春陽堂).
[4] Vgl. Rilke, Rainer Maria. Übers. Feng Zhi 馮至 (1938): „Gěi qīngnián shīrén de xìn“ 給青年詩人的信 (Briefe an einen jungen Dichter). Shanghai: The Commercial Press (商務印書館 [Shāngwù yìn shūguǎn]).
[5] Vgl. Rilke, Rainer Maria. Übers. Huang Shi-Shu 黃時樞, auch bekannt als Fang Si 方思 (1958): „Shíjiān zhī shū“ 時間之書 (Das Stunden-Buch). Taipei: Modern Poetry Society (現代詩社 [Xiàndài shī shè]) .
[6] Vgl. Rilke, Rainer Maria. Übers. Lee Kuei-Shien 李魁賢 (1967): „Lǐ ěr kè shī jí shūjiǎn“ 里爾克詩及書簡 (Rilkes Gedichte und Briefe). Taipei: The Commercial Press, Taiwan Branch (臺灣商務 [Táiwān shāngwù]).
[7] Vgl. Lee, Kuei-Shien. „O Orpheus singt! Ein Vorwort“ 奧費斯在歌唱 [Ào fèi sī zài gēchàng]. In: Tong, Yali. „Yuè zhào wúmián“月照無眠 (Mondschein, Schlafloser). Taipei: Homeward Publishing (南方家園 [Nánfāng jiāyuán]), 2012. 17–21.
[8] Vgl. Rilke, Rainer Maria. Übers. Lee Kuei-Shien 李魁賢 (1988): „Dù yīng nuò āigē“ 杜英諾哀歌 (Duineser Elegien). Taipei: Mingliu Publishing 名流出版社.
[9] Vgl. Huxley, Thomas Henry. Übers. Yan Fu 嚴復 (1898): „Tiān yǎn lùn“ 天演論 (Evolution and Ethics). Mit einem Vorwort von Yan Fu. Tianjin: Shì qí jīng shě (嗜奇 精舍). Das Übersetzungsprinzip „Xìn dá yǎ“ (信達雅), das Texttreue, Lesbarkeit und stilistische Angemessenheit umfasst, wurde erstmals in diesem Buch erwähnt.
[10] Vgl. Rilke, Rainer Maria. Übers. Tong Yali. „Qiū rì“ 秋日 (Herbsttag). In: FULLMOON Poetry-Sound Magazine 月照無眠詩聲雜誌 [Yuè zhào wúmián shī shēng zázhì]. Ausstellungsausgabe. Berlin: Selbstverlag, 2012. 11–12.
Quelle: Tong, Yali (2025): Rilke in Taiwan: eine Übersetzungsgeschichte. Deutsches Literaturarchiv Marbach – DLA Blog. Marbach am Neckar. 12. November 2025. Link.